Eine Bleibe für die, die nur die Straße haben

(Quelle: Nordsee-Zeitung vom 02.11.2013 von Susanne Schwan)

Wer hier strandet, ist obdachlos. Braucht eine Bleibe, für ein paar Tage, Wochen oder Monate. „Herberge zur Heimat“ hieß die Notunterkunft für Männer einst. Die „Wohnungsnotfallhilfe“ in Geestemünde ist heute Auffangstation und Hilfe zur Selbsthilfe zugleich.

Aus dem Wecker tropft die Zeit. Monotones Ticken, Sekunde für Sekunde, durchdringt die Eintönigkeit ringsum. Sechs Quadratmeter provisorische Bleibe auf rotem Linoleum. Bett. Tisch. Stuhl. Waschbecken. Kochplatte. Schrank. Heinz. Einer, dem das Gefühl für Zeit längst abhandengekommen ist. „Irgendwann war mein Leben aus der Spur.“ 62 ist er. Er hat, sagt er, den Halt verloren, „als meine Mutter starb“. Vor zwei Monaten verlor er auch die Wohnung.


Hier, in der Notunterkunft, bekomme man aber „einen großen Schubs, um wieder auf die Reihe zu kommen“, sagt Heinz, der in einem anderen Leben Außenhandelskaufmann war. „Die Menschlichkeit“, sagt er, „ist hier groß, man kümmert sich. Das ist weiß Gott nicht einfach bei so vielen Mentalitäten hier.“


Manchmal scheppert´s unter den Schiffbrüchigen. Ihren Schreibtisch hat Gabriela von Glahn daher hinter einer Tisch-Barriere abgeriegelt. „Es gibt auch Bewohner mit Neigung zu Gewalt“, erklärt die Arbeitsbereichsleiterin und flitzt durch den Flur. Gerade wurde ein junger Mann aufgenommen. „Cannabis-Konsument, schwer psychotisch, er fällt durch alle Sozialleistungssysteme“, skizziert die 50-Jährige. „Jetzt fahren wir ihn zum Arzt.“


Die 15 Mitarbeiter vom Psychologen bis zum Sozialbetreuer geben den Bewohnern Hilfe zur Selbsthilfe: Begleitung zu Behörden, Ärzten, zum Job-Center, Hilfe beim Formular-Kram und auch die Vermittlung zu Vermietern  Tagesgeschäft in der Wohnungsnotfallhilfe der Gisbu, der „Gesellschaft für integrative soziale Beratung und Unterstützung“.


Das schlichte 50er-Jahre-Haus liegt an der Schiffdorfer Chaussee 30: zehn Geh-Minuten vom Hauptbahnhof, fünf von der Bürgerpark-Klinik entfernt. Von hier wie dort, unter anderem, kommt Klientel in die Auffangstelle - Männer, die warum auch immer ihr Dach überm Kopf verloren haben. „Notschlafstelle“ hieß das Quartier einst, offiziell „Herberge zur Heimat“. Wer hier eine Schlafstatt sucht, hieß früher „Tippelbruder“, heute „Penner“.


Gepennt aber wird in Bremerhaven nicht auf der Straße. Zumindest nicht öffentlich sichtbar. Rund 284000 Menschen in Deutschland leben ohne festen Wohnsitz, so die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe - und erwartet bis 2016 noch rund 100000 Betroffene mehr. Schuld sei zunehmende Verarmung, Mangel an preiswertem Wohnraum. Eingeigelt zwischen Beuteln und Iso-Matten, Fusel zu Füßen - ein vertrautes, trauriges Bild in den Straßen der Städte.


Im Bremerhavener Stadtbild nicht: Hier gibt es keine offene Obdachlosen-Szene, betont die Polizei. Seit am 20. Oktober 1959 der Verein „Herberge zur Heimat“ mit Stadt, Kirchenkreis und Landkreis Wesermünde die Notunterkunft einweihte, bemüht sich ein Netzwerk - mit Polizei, Feuerwehr, Kliniken, Kirchen, Diakonie, Straffälligenhilfe und Sozialarbeit - Gestrauchelte und Gestrandete aufzufangen. „An unserer Bewohnerstruktur hat sich im Lauf der Jahre nicht viel geändert“, sagt Jens Patermann, seit 2010 Leiter der Notunterkunft. „Der Verlust der Wohnung wird durch eine Vielzahl von Problemlagen verursacht, auch durch Krankheit oder Überschuldung.“


Carsten (48) ist vor vier Monaten aus dem Krankenhaus zur Gisbu gekommen. „Oberschenkelhalsbruch“, grummelt er, hockt in der Morgensonne auf den Stufen, dreht sich Tabak ins Papier. „Ist meine 20. heute.“ Der blonde Hüne hatte Jobs im Straßenbau, als Fensterputzer. Carsten grinst, zuckt die Achseln. „Ist viel schief gelaufen bei mir. Ich bin Alkoholiker. Und ich war Drogist.“ Eine Weile könne er wohl noch hier bleiben. „Aber ich will wieder meine eigenen Wohnungsschlüssel. Und Arbeit.“


An rund 90 Prozent ihrer Bewohner, sagt von Glahn, „können wir neuen Wohnraum vermitteln.“ Manche hinterlassen aber durch Mietschulden so viel „verbrannte Erde in Bremerhaven, da raten wir, sich örtlich anders zu orientieren“. 149 Männer haben im vorigen Jahr Quartier in der Notunterkunft bezogen - manche mehrmals. 27 Plätze in Ein- und Zweibett-Zimmern hat das Haus, „aktuell haben wir noch fünf freie Betten“, von Glahn. Die Belegzahlen seien in der Regel konstant. „Aber der vorige Winter war dramatisch. Wir haben zehn Männer zusätzlich im Aufenthaltsraum untergebracht.“ Notbetten und neue Matratzen sind immer da. Maximal acht Wochen Aufenthalt seien das Ziel. „Das“, sagt Leiter Patermann, „lässt sich aber durch die vielschichtigen Probleme nicht immer einhalten.“


Heiseres Schimpfen auf dem Flur. Einer verlangt lautstark Geld für einen neuen Personalausweis. „Bekommt er von uns aber nicht“, sagt von Glahn, „er muss das selbst finanzieren.“ Finanziert werden die Personal- und Sachkosten der Notunterkunft über eine “Entgeltvereinbarung mit der Kommune“, erklärt Patermann. Der Aufenthalt meist durch Sozialleistungen. Manche können den Eigenanteil selbst zahlen, „aber das sind nur etwa zehn Prozent der Leute“. 6,82 Euro beträgt die Miete pro Tag, inklusive Strom und Wasser.


Er heiße Karsten, sei 49, gibt der Mann im Flur Auskunft. Irgendwann sei er von Rügen rübergemacht. „Er lebt seit 20 Jahren auf der Straße, kommt immer wieder. Manche wie er wollen gar nicht sesshaft werden.“  Solche wie Hans schon. Der 67-Jährige schlürft im Tagesaufenthalt Kaffee. „Ich bin seit zwei Monaten hier“, erzählt der einstige Rundfunkmechaniker. „Meine Beziehung ging kaputt, ich musste raus zu Hause.“ Er lächelt traurig. „Ich bin Rentner, kann das hier selbst bezahlen. Ich versuch hier immer, ein bisschen zu vermitteln, wenn sich welche in die Wolle kriegen.“


Das kommt vor, denn das Alkoholverbot auf den Zimmern sei nicht rigoros durchsetzbar, sagt von Glahn: „Dann hätten wir hier ein unbewohntes Haus.“ Den Tagesaufenthalt, erklärt Gabriela von Glahn, steht Männern und Frauen offen, „manche nutzen ihn als Postadresse, um für Behörden erreichbar zu sein. Es kommen auch spontan Leute, die von der Energieversorgung abgeschnitten wurden, um kostenlos hier zu duschen und Wäsche zu waschen“.
Heinz starrt einer Formation Zugvögel vorm Fenster hinterher. „War ein Drama mit meiner alten Wohnung. Sechsmal Wasserschaden. Dann hab ich die Schlüssel verloren. Und dann hat mich der Vermieter rausgesetzt.“

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