Wenn einem die Angst im Nacken sitzt

Dr. Susanne Lindner (Leitende Oberärztin der Arche Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

(Nordsee-Zeitung vom 07.03.2023, Text von Inga Hansen)

Corona, Ukraine-Krieg, Klimawandel: Die Ängste haben in der Gesellschaft zugenommen. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Woher Ängste rühren und was man gegen sie tun kann, erzählt Dr. Susanne Lindner, Leiterin der Arche Klinik in Bremerhaven, im Interview.

Frau Dr. Lindner, was ist eigentlich Angst?

Angst gehört zum Leben dazu. Es ist ein normales Gefühl, das jeder Mensch kennt. Es schützt uns in manchen Situationen. Es kann sogar Leben retten.

Wo hört denn normale Angst auf, wo fängt krankhafte Angst an?

Das kann man nicht so pauschal beantworten, das hängt vom Stand der Entwicklung des Menschen ab. Kleine Kinder dürfen andere Ängste haben als Jugendliche. Als Teenager hat man oft Angst, sich zu blamieren, bloßgestellt zu werden. Da gibt es auch Verlustängste und Probleme mit dem Selbstwertgefühl. Und bei den Erwachsenen sieht es noch mal anders aus.

Wie kann man feststellen, ob man an einer Angststörung leidet?

Menschen, die an einer Angststörung leiden, haben übersteigerte Ängste oder fürchten sich vor Dingen oder Situationen, die andere Meschen ganz normal finden. Ob Ängste übersteigert sind, das können wir Psychiater mit Messinstrumenten wie Fragebögen feststellen. Wer dort eine bestimmte Anzahl mit „ja“ beantwortet, wird als Angstpatient eingestuft.

Wann sollte man bei Ängsten ärztliche oder therapeutische Hilfe suchen?

Wer sich im Fahrstuhl nicht wohlfühlt, sich vor Spinnen fürchten oder Scheu hat eine Rede zu halten, hat deshalb nicht gleich eine Angststörung. Aber wenn einen die Angst lähmt, muss man sich Hilfe suchen. Oder wenn sie einen daran hindert, Dinge zu unternehmen, die der Alltag erfordert.

An wen sollte man sich in solchen Fällen wenden?

Zuallererst mal an den Hausarzt, der den Patienten ja am besten kennt.

Gibt es verschiedene Arten von Angststörungen?

Ja. Menschen, die sich vor Spinnen fürchten oder vor Spritzen, habe eine spezifische Phobie, also Angst vor einzelnen Dingen oder Situationen. Er gibt die Platzangst, also die Angst vor engen Räumen, oder die soziale Phobie, die Angst vor Menschenmengen. Der Körper reagiert mit einer Panikattacke auf eine angstvolle Situation, mit Symptomen wie starkes Schwitzen, Herzrasen, Gesichtsrötung. Soziale Phobien, also die Angst, unter Leute zu gehen, sich voranderen lächerlich zu machen, beispielsweise bei einem Referat oder auf einer Party, haben stark zugenommen. Schließlich gibt es die generalisierte Angststörung.

Die Angst vor allem?

Ja. Die Betroffenen werden geflutet von Ängsten. Wie eine Welle im Meer komme die Angst über die Patienten. Sie können sich nicht wehren. Die Angst sitzt den Menschen buchstäblich im Nacken. Das überwältigt einen. Das kann einem auch in Situationen passieren, in denen man eigentlich sicher ist.

Woher rühren solche Ängste?

Es gibt viele Faktoren, die die Entwicklung von Ängsten unterstützen. Zum Beispiel der Charakter. Wenn man schüchtern ist, besteht eher die Gefahr, dass man Ängste entwickelt. Oder wenn man aus einem Elternhaus kommt, in dem Mutter und Vater nicht viel erlaubt haben, sie vielleicht selber Ängste hatten und immer von Wagnissen abgeraten haben. Auch erschütternde Ereignisse in der Familie können dazu führen, dass Kinder Ängste entwickeln.

Warum?

Das Problem ist, wenn mit den Kindern nicht darüber gesprochen wird. Ein Kind bekommt alles mit, beobachtet alles, kriegt aber keine Erklärung und fängt an, sich zu fürchten. Es will nicht mehr hinausgehen, weil es mitkriegen will, was zu Hause passiert. Es will auf die Familie aufpassen und entwickelt große Trennungsängste.

Sie sagen, dass soziale Ängste, also die Angst, sich vor anderen lächerlich zu machen und bestimmte Leistungsansprüche nicht zu erfüllen, stark zugenommen haben. Hat das auch mit Corona zu tun?

Ängste, sozial nicht bestehen zu können, waren schon vor der Pandemie verbreitet. Aber Corona hat das sicher befördert. Man durfte nicht mehr richtig rausgehen, man hatte weniger Kontakte. Menschen mit Ängsten haben sich sicher noch mehr zurückgezogen.

Kinder und Jugendliche hat die Pandemie besonders getroffen. 73 Prozent, also fast drei Viertel, fühlen sich laut Bundesfamilienministerium auch heute noch psychisch belastet. Sie arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Ja. Gerade die Familien standen besonders unter Druck. Und das E-Learning mit seinen Kachelbildern auf dem Bildschirm kann den persönlichen Kontakt in der Klasse niemals ersetzen. Kinder, die Probleme haben, hatten es noch leichter, sich abzuschotten. Als die Kinder dann zurück waren in der Schule, fanden viele keinen Anschluss mehr.

Wie behandeln Sie eine Angststörung?

Wichtig ist erst mal, dem Betroffenen und - wenn man an Kinder und Jugendliche denkt – seiner Familie ein Erklärungsmodell anzubieten. Das heißt, man muss schauen, welche Faktoren in dem individuellen Fall dazu geführt haben, dass sich der Patient in einen Teufelskreis der Angst verstickt hat. Und dann versucht man, Ideen zu entwickeln, um einen Weg wieder hinauszufinden.

Wie funktioniert das?

Wir versuchen, den Jugendliche andere Wege aufzuzeigen, wie sie mit ihren Problemen umgehen können.

Was heißt das?

Menschen, die unter Ängsten leider versuchen meisten Situationen, die ihnen Angst machen, zu vermeiden. Wer Angst vorm Busfahren hat, steigt nicht mehr in den Bus ein, wer Angst vorm Telefonieren hat, geht nicht mehr ans Telefon, wer Angst vor Menschen hat, zieht sich zurück. Damit werden die Lebensmöglichkeiten aber immer weiter eingeschränkt. Und man landet in einem Teufelskreis. Ich mache immer weniger, traue mir immer weniger zu, mache noch weniger. Angst kann einen aus dem Leben hinauswerfen.

Und wie durchbrechen Sie diesen Teufelskreis?

Indem wir die Kinder und Jugendlichen stärken, ihnen wieder Selbstwertgefühl vermitteln. Damit ihre negativen Gedankenketten durchbrochen werden. Und wir führen sie dahin, dass sie die Situationen, die ihnen Angst machen, wieder angehen. Mit enger therapeutischer Begleitung natürlich. Damit sie sie auch bewältigen können. Wir führen sie zurück in Leben.

 

Zur Person:

Dr. Susanne Lindner ist Kinderärztin und Kinder- und Jugendpsychiaterin. Die 58-Jährige leitet als Oberärztin die Arche Klinik der Diakonie Bremerhaven. Bremerhavens einzige Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Träger ist das Diakonische Werk Bremerhaven. Zu erreichen ist die Klinik unter 0471 92 40 90

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