Mit dem Frost steigt die Not

(Quelle: Nordsee-Zeitung vom 06.12.2014 von Susanne Schwan)

files/Diakonie/Bahnhofsmission_logo/Bild1.pngZu viele Menschen in der Stadt haben zu wenig Geld zum Leben. In diesen Tagen ist der Ansturm auf die Kleiderkammern besonders groß. Doch es fehlt an Ware.

Zwei kleine Kartons: Babymützchen, Strampler, zwei Jeans, ein paar T-Shirts – Schluss. Während sich im Nebenraum Hunderte Kisten voll Sommerkleidung für Erwachsene bis unter die Kellerdecke türmen, ist das Regal für warme Kinderklamotten leer. Eine Etage höher stehen Mütter mit Kinderwagen, Tüten und Sprösslingen an der Hand Schlange.

Erst holen sie sich Lebensmittel an der Tafel-Ausgabe ab. Dann drängen sie drei Meter nebenan zu den Regalen voller Second-Hand-Kleidung auf beengten 40 Quadratmetern. Draußen vor der Tür dampft der weiße Atem wartender Männer in der Eisluft. Warten ist vielen hier zur zweiten Natur geworden – auf Asyl, Arbeit, Essen, Kleidung, auf Behördengängen. Auf ein Leben ohne Existenzkampf. Drinnen in stickiger Enge kämpfen Frauen mit Armen voll Jacken, Pullis, Hemden, Hosen, Wollstrick. „Ich habe fünf Kinder, zwischen acht Monaten und acht Jahren“, sagt eine junge Frau in gebrochenem Deutsch. „Mein Mann arbeitet im Fischereihafen. Aber es reicht nicht. Trotz Kindergeld.“ 33 ist sie, aus Kurdistan. „Gibt es Kinderpullis?“ Nein. Gibt es nicht. Kein Nachschub aus dem Keller.

„Wir brauchen ganz dringend Spenden an warmer Baby- und Kinderkleidung“, appelliert Manfred Jabs – Vorsitzender der Volkshilfe und Chef der Bremerhavener Tafel in der Surfeldstraße,  der die Kleiderkammer seit zehn Jahren angegliedert ist. „Wir brauchen allesallesallesalles. Auch warme Schuhe.“ Und Kleiderständer – damit die vier geringfügig Beschäftigten und drei ehrenamtlichen Mitarbeiter wissen, wohin mit den Sommerklamotten für Erwachsene, die derzeit säckeweise von Spendern gebracht oder von der
Arbeiterwohlfahrt gerne abgeholt werden.

„Einfach unsere 80 626 62 anrufen, wir verabreden einen Termin und kommen es holen“, keucht Janine Weber vom Mitarbeiterteam, während sie einen Korb voll sortierter Damen-Oberbekleidung aus dem Keller in die Kammer hoch wuchtet. „Was an Kindersachen reinkommt, rutscht sofort wieder raus“, sagt Jennifer Specken, die jeden Tag neu Angeliefertes aus Säcken, Taschen, Kartons pickt, nachschaut, Spreu von Weizen trennt. „Die Arbeit für andere Menschen macht Freude, obwohl es manchmal schon beim Aufmachen übel stinkt.“ 14 blaue Säcke voll gebrauchter Textilien seien neulich angekommen. Die Freude verpuffte binnen Minuten: „Wir mussten alles wegschmeißen, so versifft und zugekotet war das.“

Im Eingangsflur herrscht unablässiges Kommen, Gehen, Karrenschieben, Taschen schleppen – zwölf Menschen mit sehr müden Gesichtern sitzen schweigend auf Stühlen im Gang. Es ist leise, als dämpften all die Textilien das Stimmengewirr unterschiedlichster Sprachen ringsum. Eine ältere Frau knetet unablässig eine Tischdecke zwischen den Fingern. Eine Hochschwangere tritt ans Bezahl-Tischchen. „Bitte Ihre Nummer. Diese Jacke? Einsfuffzig bitte.“ Heide Rodehacke gestikuliert die Summe mit den Fingern und wirft einen prüfenden Blick auf ein rotes Kärtchen, das ihr die junge Frau hin hält. „Die Menschen, die Hartz IV oder Grundsicherung
bekommen, oder Asylbewerber, holen sich hier im Büro ein Kärtchen, mit dem sie einmal pro Woche bei der Tafel und der Kleiderkammer etwas abholen können“, erklärt die 73-Jährige.

„Es sind einfach zu viele geworden, wir müssen Missbrauch verhindern, auch durch Händler, die die Kleider dann auf dem Flohmarkt weiterverkaufen.“ Seit drei Jahren kommt Heide Rodehacke vier Mal pro Woche zur Kleiderkammer. Bezahlung will sie nicht. „Ich brauche den Kontakt, die Menschen, das ist hier eine sinnvolle Aufgabe“, betont sie. „Von 9.30 bis 13.30 helfe ich.“ Im Schnitt kommen 40 bis 50 Bedürftige pro Tag herein, auf der Suche nach Tragbarem für 50 Cent, ein oder zwei Euro. „Ich seh’ hier täglich neue Gesichter.“

Mehr als 19 000 Menschen in der Stadt sind, laut Studie der Arbeitnehmerkammer im Land Bremen, auf  Sozialleistungen zum Lebensunterhalt angewiesen, davon betroffen sind gut 6000 Kinder unter 18 Jahren. Dass fast 1000 Flüchtlinge aus Krisenregionen hier leben, spüren auch die Kleiderkammern. „Wir haben die Öffnungszeiten ausgeweitet“, sagt Manfred Jabs.

Statt Montag und Mittwoch ist nun montags bis freitags geöffnet. „S-O-S“ funkt akut auch die Kleiderkammer des Diakonischen Werks im Wichernhaus Lehe: „Täglich kommen etwa 30 Besucher, aber uns fehlen dringend warme Wintersachen für Kinder“, hofft Jessica Schmidt auf Spenden. Und Brigitte Meyer vom Kleiderkiosk der Christuskirche im Bürgerpark-Süd stellt klar: „Es sind viel, viel mehr Kunden geworden, vor allem bedürftige Rentner.“ An der Surfeldstraße nimmt ein junger Mann seinem älteren, gehbehinderten Begleiter drei schwere Mäntel vom Arm. „Wir sind aus Varna in Bulgarien“, sagt der 28-jährige Ahmed, „ich habe Glück und Arbeit als Schweißer. Aber es reicht doch nicht für die ganze Familie.“

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