„Ich denke, das kennt jeder“

Quelle: Nordsee-Zeitung vom 28.06.2018 von Maike Wessolowski

Das Interview: Der Sozialpädagoge Michael Tietje über Hilfen für psychisch Kranke.

Vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an Depressionen, darauf weist die „Mut“ – Tour hin, die am Mittwoch Station in Lehe gemacht hat. Dort gibt es seit fünf Jahren eine Anlaufstelle für psychisch Kranke: Das Zentrum für seelische Gesundheit. Es hat am Mittwoch Geburtstag gefeiert. Träger sind unter anderem die Diakonie, das Klinikum Reinkenheide, die Arbeiterwohlfahrt und die Elbe-Weser-Werkstätten. Mit dem Sozialpädagogen Michael Tietje (Arche/Diakonie) aus Bremerhaven sprach darüber Maike Wessolowski.

 

 

 

 

Herr Tietje, haben wir nur den Eindruck, dass mehr Menschen an Depressionen erkranken?

Forscher ermitteln eine konstante Zahl von fünf bis acht Prozent der Bevölkerung, also vier Millionen Menschen, die an Depressionen leiden. Weit mehr haben depressive Phasen. Ich denke, dass kennt jeder. Was zunimmt, sind die Krankschreibungen. Früher haben die Menschen körperlich gearbeitet und hatten entsprechende Erkrankungen. Wir sind eine Dienstleistungsgesellschaft, ausgerichtet auf Tempo, Erreichbarkeit, Funktionalität und Präsenz. Das wirkt auf die Psyche. Wir merken, dass soziale Medien zusätzlichen Druck ausüben. Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt, wenn die heute Zwölfjährigen im Berufsleben stehen. Ich denke, die Zahlen werden steigen.

In Bremerhaven hat es in den vergangenen Monaten mehrere Selbsttötungen gegeben, die öffentlich stattfanden. Warum tun Menschen das?

Es gibt 10.000 Suizide pro Jahr, mehr als Ver-kehrs- oder Drogentote. Aber von allen Menschen mit Depressionen machen sie nur 0,25 Prozent aus. Es ist wichtig, da keine Kette zu sehen. Die meisten Depressionen haben keine Selbstmordabsichten. Aber die Hälfte der Selbstmörder waren vermutlich depressiv. Die wenigsten haben eine narzisstische Störung und wollen Öffentlichkeit. Bei den meisten ist die Verzweiflung so groß, dass sie nicht über andere nachdenken. Viele haben Angst vor Schmerz und wählen eine für sie sicher wirkende Option. Psychisch Kranke werden durch negative Stimmung, die nach einem Selbstmord mit Öffentlichkeit entsteht, massiv unter Druck gesetzt. Das ist hoch stigmatisierend.

Das Zentrum hat die „Mut“ – Tour zum offenen Umgang mit Depressionen am Mittwoch begleitet. Warum ist so eine Tour wichtig?

Vieles ist symbolisch. Es fahren Kranke und Nicht-Kranke im Tandem, nach dem Motto: Wenn du nicht mehr kannst, trete ich für dich weiter, gemeinsam kommen wir an. Für Erkrankte ist es wichtig, dass jemand bei ihnen bleibt, auch wenn derjenige ihnen das negative Gefühl nicht nehmen kann. Sport, frische Luft und Unternehmungen in der Gruppe heilen keine Depression, können aber positiven Einfluss nehmen. Zudem können sie Krisen vorbeugen.

 

Hafenstraße 126

• Im Jahr 2013 haben acht Träger unter Federführung des Klinikums Reinkenheide das Zentrum in der Hafenstraße 126 gegründet.
• In der dritten Etage befindet sich eine Tagesklinik für psychisch Erkrankte. Im zweiten Stock sind die Träger mit Büros und Gruppenräumen vertreten.
• Ziel war, die Tagesklinik ins Zentrum der Stadt zu holen und Geld und Angebote verschiede-ner Träger zu bündeln. Das Zentrum veranstaltet Familientage, Vorträge, Kochkurse und Diskussionen für Jedermann, um Kontakt zum Viertel herzustellen.

Zurück