Hochburg der armen Kinder

Quelle:pixabay.com/de/fenster-glas-schmutz-staub-teddy-163812/(Quelle Artikel: Nordsee-Zeitung  vom 7.11.2017 von LAURA BOHLMANN-DRAMMEH) 

Jedes zweite Kind in Geestendorf lebt von Hartz IV, mehr als im Goethequartier. Das ist ein alarmierender Wert, der die Akteure im Stadtteil aufgeschreckt hat. Aufgefangen werden die Kinder in Geestendorf kaum, nur in Grünhöfe gibt es Angebote. Eine Bedarfsanalyse.

Kaputte Häuser, heruntergekommene Wohnungen, aus einem offenen Fenster wehen bei acht Grad Außentemperatur Gardinen, eine Gruppe Mütter steht am Straßenrand und raucht. Die Ellhornstraße ist eine, die immer wieder genannt wird, wenn man im Stadtteil fragt, wo die armen Kinder leben. Denn auf den ersten Blick sieht man Geestendorf nicht an, dass hier fast jedes zweite Kind auf Sozialleistungen angewiesen ist und als arm gilt. Eine vom Jugendamt in Auftrag gegebene sogenannte „Sozialraumanalyse“ zeigt aber:49,3 Prozent der Kinder unter 15 Jahren lebt in Geestendorf von Hartz IV, in Grünhöfe sind es 44,6 Prozent, im Goethequartier 48,0 Prozent.

 „Geestendorf sieht überwiegend nicht so aus wie Lehe, deshalb fällt die Armut weniger auf“, glaubt Ulrike Wefer, Leiterin der Kita an der Ellhornstraße. Entsprechend erschrocken sei sie angesichts der neuesten Zahlen. „Dass wir das Goethequartier abgehängt haben, hätte ich nicht gedacht“, sagt die Erzieherin. Sie kümmert sich gemeinsam mit ihren Kollegen täglich um 150 Kinder. Die Mehrzahl habe einen Migrationshintergrund,14 Nationen kämen in der Kita zusammen. „Zu uns kommen viele türkische und syrische Kinder“, sagt Wefer.

Das deckt sich mit den Zahlen aus der Analyse: 2015 lebten in Geestendorf 881 ausländische Kinder im Alter von null bis sechs Jahren und 630 deutsche. Die meisten kommen aus der Türkei, Polen, Griechenland, Syrien und Portugal. Im Kindergartenalltag an der Ellhornstraße heißt das: „Immer mehr Eltern haben einen Hilfebedarf, etwa beim Ausfüllen von Anträgen für Bildungsgutscheine“, erklärt Wefer. Denn nur so könnten die Kinder an Bildungsangeboten, wie etwa Ausflügen ins Museum, teilnehmen.

 „Dabei sind gerade Freizeitangebote wichtige Alternativen im Alltag“, sagt Wefer. Sie ist überzeugt: Nur mit Bildung entkommen die Kinder ihrer Armut. Deshalb hat die Kita selbst die Initiative ergriffen. „Wir haben ein offenes Bücherregal in den Flur gestellt, dort kann sich jeder Lesestoff mitnehmen“, erzählt sie. Daneben steht ein

Beistelltischchen mit abgelegter Kleidung, die mitgenommen werden kann. „So hilft jeder jedem ein bisschen“, sagt Wefer. Die Kita-Leiterin hat jetzt im November eine große Sorge: „Ich fürchte, nicht jedes Kind wird ein Geschenk unter dem Baum finden.“ Auch dafür hat sie sich mit dem Elternbeirat etwas überlegt: „Wir wichteln. Jedes Kind schenkt einem anderen Kind etwas, die Geschenke sammeln wir gerade“, erzählt sie und zeigt auf einen Karton am Fensterbrett, in den die Spenden gelegt werden sollen. Ein einsamer Teddy liegt darin. „Vielleicht bekommen wir ja noch etwas mehr geschenkt“, so Wefer.

 Auf Spenden angewiesen ist auch die Kleiderkammer der Christuskirche an der Robert-Blum-Straße. „Uns fehlt vor allem Winterkleidung für Kinder“, sagt Leiterin Brigitte Meyer. Den vielen ausländischen Familien mit ihren Kindern würde damit sehr geholfen, sagt die Ehrenamtlerin. Geestemündes Standortmanager Thomas Ventzke ist von den Zahlen, anders als die Kita-Leiterin, wenig überrascht. „In der ganzen Stadt ist die Kinderarmut hoch, da ist Geestemünde keine Ausnahme“, sagt er. Ventzke meint, dass am südlichen Ende von Geestendorf, also zwischen der Georg-Seebeck-Straße und südlich von der Straße An der Mühle die meisten armen Kinder leben.

In der Sozialraumanalyse werden die Spichernstraße, die Wörther Straße, die Wittekind- und die Ulmenstraßen als diejenigen benannt, in denen die meisten Bedarfsgemeinschaften leben. Was Ventzke ärgert: „Es ist ein Riesendilemma, dass es in Geestendorf keine Einrichtung für Kinder und Jugendliche gibt.“ Der Bürgerverein hat deshalb das Jugendatelier „YART“ an der Schillerstraße eröffnet. „Dort gibt es Aktionen für Kinder, aktuell findet dort an den Wochenenden im November in Fotokursus statt“, erklärt Ventzke. In der Sozialraumanalyse wurden zum einen Daten über den Stadtteil zusammengetragen, zum anderen aber auch Eltern befragt. Als Ergebnis daraus empfiehlt das Jugendamt auch die Schaffung eines Familienzentrums in Geestendorf. „Da gibt es aber noch keine konkrete Planung, wir brauchen erst einen politischen Beschluss“, sagt Stabsstellenleiterin

Martina Völger. Zusätzliche Krippen und Kitaplätze seien hingegen schon beschlossene Sache. Zeitnah soll auf dem Gelände Voßstraße/Georg-Seebeck-Straße eine Kita mit 140 Plätzen geschaffen werden, sagt Magistratssprecher Volker Heigenmooser.

Wie wichtig ein Familienzentrum sein kann, weiß Daniela Schlüter. Die 33-Jährige ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, lebt in Grünhöfe und ist fast täglich im Familienzentrum an der Braunstraße. „Ohne das Familienzentrum ginge es mir und meinen Kindern schlecht“, sagt Schlüter. Denn die Mitarbeiter und Eltern, die in die Braunstraße kommen, seien für sie wie eine Familie geworden. „Meine Kinder nutzen die Angebote

und ich habe hier immer jemanden zum Reden“, erklärt Schlüter. Sie hat eine 13-jährige Tochter und zwei Söhne im Alter von zwei und drei Jahren. „Die einzige Möglichkeit, auch mal Zeit mit meiner Großen allein zu verbringen, ist hier, weil ich weiß, die Jungs sind gut aufgehoben“, sagt die 33-Jährige.

Tina Schölzel leitet das Familienzentrum und weiß: „Zur finanziellen Armut kommt die soziale Armut der Kinder hinzu. Wir haben hier viele, die emotional und sozial auffällig und tagsüber auf sich alleine gestellt sind.“ Das Familienzentrum sei für diese Kinder nach der Schule ein wichtiger Anlaufpunkt. „Es gibt einige, die können nachmittags nicht nach Hause gehen“, sagt Schölzel. Im Familienzentrum werden die Kinder aufgefangen, es gibt Hausaufgabenhilfe, Koch oder Selbstverteidigungskurse. „Wir versuchen, den Kindern ein Ansprechpartner zu sein, Werte zu vermitteln und Rituale vorzuleben“, sagt Schölzel. Auch Ausflüge oder Ferienfahrten organisiert das Familienzentrum, meist über Spenden- oder Projektgelder finanziert. Im vergangenen Jahr waren sie vier Tage lang im Ferienzentrum Schloss Dankern in Haren an der Ems. Auch Daniela Schlüter ist mit ihren Kindern dabei gewesen.

 „Das war für uns der erste Urlaub seit 13 Jahren und total wichtig“, erzählt sie. Schölzels Wunsch an die Politik: „Die Familienzentren sollten mit vollen Stellen ausgestattet werden.“ Aktuell hat sie als Leiterin des Familienzentrums einen Vertrag über 27 Stunden die Woche. Damit sei die anfallende Arbeit kaum zu schaffen. Völger vom Jugendamt, das die Familienzentren finanziert, erklärt: „Wir haben von der Politik nicht mehr Geld

zur Verfügung gestellt bekommen.“ Dass Kinder mit wenig Geld oft teilen, wenn sie welches haben, hat Antje Baunacke beobachtet. Die Erzieherin arbeitet im Kinder- und Jugendtreff Grünhöfe im Dienstleistungszentrum. „Wenn die Kinder Geld haben, geben sie es gleich aus, lassen ihre Freunde aber mitessen“, sagt Baunacke. Was den Jugendlichen in Geestendorf fehlt, versuchen Baunacke und ihre Kollegen in Grünhöfe zu bieten:

„Sie haben hier einen Ort, an dem sie sich treffen können, und wir sind wichtige Ansprechpartner“, sagt Baunacke. Die meisten kämen, weil sie zu Hause Langeweile hätten. „Hier können sie Kicker oder Billard spielen und sich an der Kletterwand austoben“, sagt Baunacke. Von 14 bis 21 Uhr sei der Kinder- und Jugendtreff für sechs bis 21-Jährige geöffnet.

 „Das wird sehr gut angenommen“, sagt Baunacke. Standortmanager Ventzke weiß: „So einen Ort zum Treffen und mit Ansprechpartner wünschen sich auch die Jugendlichen in Geestendorf.“

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