Eine Krankheit wie ein Brandmal

(Quelle: Sonntagsjournal vom 02.02.2014 von Susanne Seedorf)

Wie Scham und Stigma psychische Leiden verschlimmern – Diskussionsveranstaltung im Zentrum für seelische Gesundheit

BREMERHAVEN. Wer krank ist, wird normalerweise gepflegt und umsorgt. Manchmal ernten Kranke aber auch Hohn und Spott. Sie werden geächtet, gefürchtet, weggestoßen – vor allem, wenn es um die Psyche geht. Für die Betroffenen bedeutet dies eine doppelte Belastung: Sie müssen nicht nur mit ihrem eigentlichen Leiden, sondern auch noch mit einem Stigma und dem Gefühl der Scham klarkommen. Was das mit den Erkrankten macht und was sie dagegen tun können, darüber tauschten sich jetzt rund 80 Betroffene, Angehörige und Fachkräfte im Zentrum für seelische Gesundheit aus.

Nachbarn können grausam sein. „Hast du schon gehört? Die ist wieder in der Klapsmühle und wird da festgeschnallt“, diesen und ähnlichen Tratsch haben viele psychisch Kranke schon über sich gehört. Als eine Frau ihre Erfahrung aus ihrem Heimatort schildert, nicken zahlreiche Teilnehmer der Trialog-Veranstaltung wissend und mitfühlend mit den Köpfen. Der Gesellschaft deshalb Böswilligkeit zu unterstellen, greife zu kurz – so der allgemeine Tenor. „Die Umwelt hat einfach Angst vor der Krankheit“, erklärt eine andere Frau. „Vielleicht fürchten die Leute, sie könnten selbst einmal so etwas haben“, meint sie. Schließlich sei teilweise sogar noch die Annahme verbreitet, Psychosen, Depressionen und Co. seien ansteckend.

In der Gesellschaft herrsche zudem oftmals der Glaube, dass psychisch Kranke aggressiv und unberechenbar seien, fügt ihre Sitznachbarin hinzu. „Viele denken, wir könnten jederzeit ein Messer aus der Tasche ziehen“, sagt sie. Auch die Medien schürten diese Angst, weil psychische Leiden vielfach nur im Zusammenhang mit Gewalttaten Beachtung
fänden. Doch auch das alltägliche Unverständnis, die stetige Missbilligung sei für die Betroffenen zermürbend. „So kann man doch nicht leben!“, heiße es nicht selten, wenn jemand bis zum Mittag schläft, weil er in der Nacht
keine Ruhe findet. Oder: „Such dir eine vernünftige Arbeit, leiste mal deinen Beitrag für die Gesellschaft! Funktioniere endlich!“ seien verzweifelte Aufforderungen aus den Reihen der eigenen Familie.

Wer psychisch krank ist, werde durch solche Anklagen noch zusätzlich bestraft, einer seelischen Gesundung komme dies nicht gerade zugute, fasst eine Betroffene zusammen. Das Stigma sei wie eine zweite Krankheit. „Von klein auf lernt man, dass man nicht richtig ist, so wie man ist“, ergänzt ein Mann wenige Plätze weiter. Die Verurteilung durch die Außenwelt sei zwar hart. Noch schlimmer sei aber das eigene Gefühl der Scham. „Dann hat man das negative Außenbild verinnerlicht und kann überhaupt nicht mehr zu sich selbst stehen“, sagt er. „Man sieht sich nur noch durch die Augen der anderen.“ Manche Betroffene erzählen dem Umfeld deshalb – zunächst – gar nichts mehr von ihrer Situation. „Anfangs verheimliche ich meine Krankheit.

So können die Menschen mich erst einmal als Person und nicht als Kranke kennenlernen“, verrät eine Frau ihre Strategie. „Wenn ich später dann alles erzähle, mögen sie mich vielleicht schon so sehr, dass sie sich nicht mehr abwenden.“ Eine andere Frau hat damit weniger gute Erfahrung gemacht. „Das Verheimlichen ist für mich viel zu belastend“, meint sie. „Das ist ein ständiges Eierlaufen, weil keiner was merken darf.“ Sie sei gut damit gefahren, ihrem Umfeld immer gleich reinen Wein einzuschenken. Wieder andere haben für sich einen Kunstgriff entdeckt. „Ich sage meistens, dass ich eine
Stoffwechselstörung im Gehirn habe“, gesteht eine andere Frau. Mit dieser Erklärung käme die Außenwelt meist besser zu Recht – vielleicht, weil sie mehr nach körperlicher, als nach geistiger Beeinträchtigung klingt.

TRIALOG
Der Trialog findet an jedem letzten Mittwoch im Monat im Zentrum für seelische Gesundheit (Hafenstraße
126, 2. Etage) zu wechselnden Themen statt und ist eine offene Gesprächsrunde für Betroffene, Angehörige und Fachleute. Auch andere Interessierte sind ausdrücklich eingeladen.

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